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http://www.abendblatt.de/daten/2006/08/09/595827.html?s=1

"Es geht nicht, dass Sicherheit der Atomkraft auf gut Glück basiert"

"Sie versuchten verzweifelt, einen der Dieselgeneratoren vom Kontrollraum
aus zu starten, um die Kühlwasserpumpen für den Reaktor am Laufen zu
halten. Doch es fehlte der Strom für den Zündimpuls. Hinzu kam, dass
mehrere Meßinstrumente ausgefallen waren", schildert Lars-Olov Höglund
die steigende Anspannung im Kontrollraum von Forsmark I.

Nach Höglunds Darstellung wurde die Situation noch brisanter. Im
Turbinengebäude des Kraftwerks sei Dampf ausgetreten, den die
Feuermeldeanlage im Gebäude als Feuer identifiziert und mit dem
automatischen Einschalten der Sprinkleranlage sowie Sirenengeheul
quittiert habe. "Die automatischen Kameras zur Überwachung des Kraftwerks
funktionierten nicht - es fehlte der Strom - ebenso wenig die
Lautsprecheranlage, mit der im Alarmfall die Menschen im Kraftwerk
gewarnt werden", sagt Höglund.

In ihrer Not hätte die Besatzung des Kontrollraums schließlich aus dem
benachbarten Atomreaktor Forsmark II Hilfe herbeitelefoniert. Forsmark II
war zu diesem Zeitpunkt wegen Wartungsarbeiten heruntergefahren und vom
Netz. Die Kollegen sind hinübergerannt", sagt Höglund. Einer der zur
Hilfe gerufenen Ingenieure habe dann einen Weg gefunden, den benötigten
Strom für den Startimpuls von zwei Dieselgeneratoren einzuleiten.

"Ab dann lief es. Aber sie haben einfach probiert. Es war nicht die
Konsequenz von Sicherheitsanalyse und Training. Der Störfall war nicht
vorauszusehen, und es war auch nicht abzusehen, ob die Gegenmaßnahmen
greifen würden", kritisiert Höglund. Die Mannschaft aus dem Kontrollraum
jedenfalls sei anschließend "so fertig" gewesen, dass sie ihre Schicht
vorzeitig beendet habe und psychologische Betreuung brauchte, sagt der
Ingenieur.

Was den Störfall für ihn so gravierend macht ist ein Phänomen, das
Höglund als "Common Cause Failure" bezeichnet und das in der
Sicherheitsdiskussion über Kernkraftwerke eine wichtige Rolle spielt:
"Damit ist gemeint, dass gleichzeitige Fehlfunktionen in Systemen
auftreten, die einander stützen und ersetzen. Es darf nicht vorkommen,
dass eine Ursache redundante Systeme außer Funktion setzt."

Das bedeutet, der Kurzschluss hätte nicht dazu führen dürfen, dass keiner
der vier Generatoren ansprang und auch die vier Batteriesysteme
lahmgelegt waren. Wenigstens zwei hätten funktionieren müssen. "Mit
solchen Fehlern rechnet niemand", sagt Höglund. "Um die
Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, möglichst gering zu halten,
könnten vier Diesel von vier unterschiedlichen Herstellern eingebaut
werden. Darauf wird aber verzichtet, um die Kosten überschaubar zu halten
und um die Mitarbeiter einheitlich zu schulen."

Dies sei riskant, zumal es sich bei der Stromversorgung um die
zweitwichtigste Komponente in einem Atomkraftwerk handelt: "Die
wichtigste ist die Schnellabschaltung und die Regelung der Steuerstäbe.
Wenn die nicht mehr in den Reaktor eingefahren werden können, kommt es
unweigerlich zur Kernschmelze. Auch dafür gibt es redundante Systeme, die
in Forsmark auch funktioniert haben. Doch dann kommt schon die
Stromversorgung. Ohne Strom habe ich keine Möglichkeit, Kühlwasser zu
pumpen, weil die Pumpen elektrisch betrieben werden. Verdampft das
Kühlwasser, kommt es zur Überhitzung und unkontrollierten Reaktion des
Kerns. Deshalb darf der Strom nicht ausfallen."

Schon die Arbeiten am Hochspannungsnetz in der Nähe des Reaktors hätten
niemals während des Betriebs des Kraftwerks unternommen werden dürfen.
Denn die würden die Gefahr eines Störfalls bergen.

Höglund stellt in diesem Zusammenhang die Frage nach der
Sicherheitsphilosophie in Atomkraftwerken. "Wenn in so einem kritischen
Punkt wie der Stromversorgung letztlich der Zufall entscheidet, ob es zu
einer Katastrophe kommt oder nicht, ist die gesamte Reaktorsicherheit
infrage gestellt. Dann muss ich mich fragen, wie viele unbekannte Fehler
sich noch verstecken und wie verlässlich die ganzen
Sicherheitsberechnungen sind. Es geht nicht an, dass die Sicherheit der
Atomkraft auf gut Glück basiert."

erschienen am 9. August 2006


http://www.abendblatt.de/daten/2006/08/09/595732.html

> Experte: So nah war der GAU

Atom-Störfall: Die 23 dramatischen Minuten von Forsmark. Was geschah
wirklich am 25. Juli in dem schwedischen Kernreaktor? Im Abendblatt
behauptet der frühere Planungschef: Nur Glück verhinderte eine
Katastrophe.

Von Frank Ilse

Ein Störfall am 25. Juli im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark bei
Stockholm hätte beihahe zum Gau führen können.

Ein Störfall am 25. Juli im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark bei
Stockholm hätte beihahe zum Gau führen können. Foto: DPA

Hamburg/Stockholm -

Im Turbinengebäude trat Dampf aus, die Sprinkleranlage setzte ein,
Sirenen heulten: Der Störfall in dem schwedischen Kernkraftwerk Forsmark
I bei Stockholm (wir berichteten) lief offenbar weit dramatischer ab als
bislang öffentlich bekannt.

Zwei Wochen nach den Geschehnissen erhebt der frühere Chef der
Konstruktionsabteilung des Reaktors, Lars-Olov Höglund, im Abendblatt
schwere Vorwürfe.

Im Zeitraum zwischen dem Stromausfall im Kraftwerk und dem Start der
Notstromdiesel, so Höglund, habe unter den Mitarbeitern Panik geherrscht.
"Es war die schlimmste Situation seit Tschernobyl und Harriburg. Wir
waren furchtbar nahe an einer richtig gefährlichen Situation." Eine
Kernschmelze und damit der GAU (größter anzunehmender Unfall) seien nur
knapp vermieden worden.

Der frühere Vattenfall-Mitarbeiter hatte nach eigenen Angaben Einsicht in
die offiziellen Unterlagen über den Störfall: "Je mehr ich darüber lese,
umso schwerwiegender stufe ich die Sache ein", so Höglund zum Abendblatt.
"Vattenfall sagt zwar zu Recht, dass alles gut ausgegangen ist. Aber das
war reines Glück!" Nach Höglunds Schilderung spielte sich im Kontrollraum
des Meilers Forsmark I am 25. Juli ein 23 Minuten dauerndes Drama ab.
"Durch Arbeiten am Hochspannungsnetz in der Nähe des Reaktors kam es zu
einem Kurzschluss, der die Stromversorgung des Kraftwerks von außen
lahmlegte. Doch anders als vorgesehen lieferten weder die für so einen
Fall eingebauten Batteriesysteme Strom, noch sprangen die Notstrom-
Dieselaggregate an", sagt Höglund.

Nach seiner Aussage gibt es in schwedischen Atomkraftwerken zwei
Sicherungssysteme, die bei Stromausfall greifen sollen: "Zum einen vier
voneinander unabhängige Batteriesysteme, die jeweils 50 Prozent der für
das Kraftwerk benötigten Leistung liefern. Und unabhängig davon noch
einmal vier Dieselgeneratoren, die wiederum jeweils 50 Prozent der
notwendigen Leistung bringen. Theoretisch reicht also die Leistung von
zwei der insgesamt acht Möglichkeiten, das gesamte Kraftwerk mit Strom zu
versorgen."

"Diese Eigenvorsorge ist eine Konstruktionsvoraussetzung bei
Kernkraftwerken. Üblicherweise springen diese Systeme automatisch an.
Aber nicht in diesem Fall. Keines der Systeme sprang an. Das ist sehr
ungewöhnlich und darf nicht passieren", sagt Höglund. Dieser Fehler war
unbekannt und deshalb auch ungeübt. "Die sieben Leute im Kontrollraum
wussten einfach nicht, wie sie darauf reagieren sollten, und wurden
panisch."

erschienen am 9. August 2006

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