Stuttgarter Zeitung, 21.03.2010
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der-alten-widerstaendler.html

Neckarwestheim
Das Gefühl der alten Widerständler

Markus Klohr, Fotos: factum/Weise, dpa, ddp, veröffentlicht am 21.03.2010

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Neckarwestheim - Der Stein des Anstoßes ist etwa zehn Meter hoch. Auf dem Parkplatz des
Kernkraftwerks Neckarwestheim hat der Hausherr einen großen blauen Kubus aufgebaut.
"Liebe Sonne, ich mag Dich und ich will Dich. Aber ohne Kernkraft fehlt mir was. Dein
Stromnetz", ist auf dem Bauwerk der EnBW zu lesen. Wenige Stunden vor Beginn der
größten Kundgebung gegen die Atomkraft seit 20Jahren hat der Energiekonzern den Würfel
errichtet. Bei den Demonstranten ist er das Thema Nummer eins. "Das ist typisch EnBW,
denen steht das Wasser bis zum Hals", sagt einer der Organisatoren. Herbert Würth, 54,
grauer Bürstenhaarschnitt, Wanderjacke, sieht man es an, dass er als AKW-Demonstrant
auf eine lange Laufzeit zurückblickt. Schon Ende der 70er Jahre ging er auf die Straße, weil
er meinte, dass er seine Kinder nicht mit "Wagenladungen" von Atommüll belasten könne.
Dann kam die Familienpause, dann kam Tschernobyl, und Würth, Betriebsrat eines
Autozulieferers, ging wieder auf die Straße. Den Kubus der EnBW hält er für ein Zeichen von
Panik. "Die haben höllische Angst um ihre Gewinne."

"Es ist ziemlich schwer, Leute zu mobilisieren, die Tschernobyl nicht erlebt haben."
Florian Schwarz, 22, Neuling in der Anti-AKW-Bewegung

Der Atomstrom als ein Puffer für die erneuerbaren Energiequellen? Das Kraftwerk
Neckarwestheim als klimaschonende Energiequelle im Dienste der Versorgungssicherheit?
Die EnBW als Großinvestor in regenerative Energieträger? Solche Parolen des Konzerns
ziehen an diesem Sonntag vor dem Atommeiler nicht. Bei den Versammelten geht eine
andere Parole um, sie lautet: "Es geht wieder los." Rund 5200Menschen haben sich vor dem
Kraftwerk aufgereiht. "Wir sind massenmäßig wieder da, wo wir nach Tschernobyl waren",
sagt Würth. Zum Protest hatten 35 Gruppen aufgerufen, von den örtlichen
Aktionsbündnissen über Naturschutzverbände bis hin zu den Grünen und zur SPD. Die alte
Protestbewegung gewinnt wieder an Strahlkraft, und sie arbeitet professionell: statt
improvisierten Mahnwachen oder Blockadeaktionen werden medienwirksame Events in
Szene gesetzt. Das mit 1500 Meter angeblich "längste Anti-Atom-Transparent der Welt" wird
entrollt-gedacht als eine "Mitmachaktion".

Teil eines kleinen, renitenten Grüppchens

Für Herbert Würth ist die erneute Massentauglichkeit des Widerstands gegen die Kernkraft
"ein schönes, ein echt gutes Gefühl". Er hat sich daran gewöhnt, als Teil eines kleinen,
renitenten Grüppchens, dem lokalen Aktionsbündnis Castor-Widerstand, dem Stromriesen
seit Jahren Paroli zu bieten. Aber die Resonanz war schwach. Einige hundert Mitstreiter
kamen höchstens an den Tschernobyl-Jahrestagen zusammen. Nur bei den
Demonstrationen gegen die Castor-Transporte waren die Teilnehmerzahlen vierstellig. Würth
sieht sich als Außerparlamentarischer, er hält Abstand zu den parteipolitisch gefärbten
Mitstreitern. Er war bei ungenehmigten Blockaden oder Anti-Atom-Spaziergängen dabei und
hätte um ein Haar ein hohes Ordnungsgeld zahlen müssen. Doch die Polizei konnte nicht
nachweisen, wer in der anarchischen Gruppe der Rädelsführer war.

Heute ist das anders. Alles ist legal, alles in einem ordentlichen Rahmen: Schon früh ist der
Aufmarsch der Atomgegner beim Landratsamt angemeldet und genehmigt worden. Die
Neckarwestheimer Punkrocker Glyzerin empfängt den Protestzug um die Mittagszeit auf dem
Parkplatz des Atommeilers. Ein Kabarettist klopft Anti-Atom-Sprüche, für die Kinder gibt es
ein Spielmobil, Sambatrommlern geben den Rhythmus vor. Eine Moderatorin spricht, Snacks
und Getränke werden feilgeboten. Aber kurz nach dem Beginn der Kundgebung gerät der
blaue Kubus ins Wanken. Einige Demonstranten versuchen, die Werbebotschaft
herunterzureißen. Eine Gruppe schwarz Gekleideter macht sich am Transparent der EnBW
zu schaffen. Zwei junge Aktivisten klettern nach oben, seilen sich an und nesteln an dem
Werbebanner. Herbert Würth schmunzelt, als hätte er eine Vorahnung. "Bei uns gilt das
Motto: keine Gewalt gegen Menschen", sagt er nur. Eine Schar von Polizisten steht in
gebührendem Sicherheitsabstand daneben und schaut zu.

Der Hintergrund für das erneute Aufflammen des Protests ist die Politik der schwarz-gelben
Bundesregierung. Neckarwestheim, dessen erster Block 1976 ans Netz ging, ist nach Biblis
der zweitälteste Kernreaktor Deutschlands, der noch in Betrieb ist. Eigentlich hätte er in
diesem Frühjahr vom Netz gehen sollen. Doch die EnBW hat die Reststrommengen
geschickt verteilt, um den Betrieb bis in den Herbst zu retten. Dann, so wird erwartet, könnte
der Bund den von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg rückgängig machen.

Rastalocken neben Seitenscheitel

Das Unbehagen an diesem Spiel auf Zeit vereint ganz unterschiedliche Typen. Rastalocken
und Seitenscheitel sind Seite an Seite zu sehen. Etliche Demonstranten sind im Rentenalter.
Aber auch die junge Generation, für die die alten Kämpen einst aus ideellen Gründen auf die
Straße gegangen sind, ist mit von der Partie. Die Grüne Jugend zeigt massive Präsenz. "Es
war bei uns nicht schwierig, Leute zu mobilisieren", sagt Florian Schwarz, 22, Vorsitzender
der Grünen Jugend im Kreis Ludwigsburg. Außerhalb der Parteikreise sei aber
Überzeugungsarbeit nötig. "Es ist viel schwerer, Leute zu überzeugen, die Tschernobyl nicht
erlebt haben." Er kann dem Werbekubus der EnBW sogar etwas Positives abgewinnen. "So
etwas provoziert, für uns ist das ist ein Ansporn."

Im Protestzug, der sich am Kirchheimer Bahnhof gesammelt hat, um dann nach
Neckarwestheim zu marschieren, sind auch viele Kinderwagen zu sehen. Vor dem
Kirchheimer Bahnhof haben sich einige Familien versammelt. Papa hat ein Transparent vor
dem Bauch, Mama hält eine Fahne. Und die Kinder malen mit Kreide auf der Straße, sie
streichen Atomkraftwerke durch und schreiben den Slogan "Atomkraft-Nein Danke".

Um 15Uhr verliert die EnBW die ideologische Deutungshoheit über das Geschehen. Der
blaue Kubus steht noch, aber quer über die Werbeparole haben die schwarzgekleideten
Kletterer ein Transparent der Naturschützer von Robin Wood gehängt. "Lächeln statt
Strahlen", ist darauf zu lesen. Herbert Würth hat den Spruch verinnerlicht: "Wir senden heute
aus Neckarwestheim ein bundesweites Signal."

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Info-tel 07141 / 903363
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