Süddeutsche Zeitung, 03.09.10
> Umweltministerium rügt Merkels Atom-Gutachten
> Ging beim Atom-Gutachten alles mit rechten Dingen zu? Die Expertise, auf die sich die
Kanzlerin im Kernenergie-Streit stützt, soll haarsträubende Fehler enthalten.
Von Markus Balser und Claus Hulverscheidt
Als die Forschungsinstitute EWI, Prognos und GWS Ende vergangener Woche ihr sehnlichst
erwartetes Gutachten über Deutschlands Energiezukunft im Bundeskanzleramt ablieferten,
schien der koalitionsinterne Streit über längere Laufzeiten der Atomkraftwerke endlich
beendet zu sein.
Die Szenarien der Forscher hätten klar und objektiv ergeben, dass längere Laufzeiten
geringere Strompreise und mehr Versorgungssicherheit zur Folge hätten, sagte Kanzlerin
Angela Merkel (CDU). Und Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) zeigte sich überzeugt,
endlich den wissenschaftlichen Beweis dafür in der Hand zu haben, dass Deutschlands
Atommeiler noch viele, viele Jahre Strom produzieren sollten. Doch in Teilen der Regierung
wachsen mittlerweile die Zweifel, ob bei der Ausarbeitung des Gutachtens tatsächlich alles
mit rechten Dingen zugegangen ist.
Eine interne Einschätzung des Bundesumweltministeriums, die der Süddeutschen Zeitung
vorliegt, wirft den Autoren haarsträubende Fehler und sogar Manipulation vor. So sollen die
Kosten, die private Haushalte künftig jährlich für den Klimaschutz zahlen müssten, viel zu
hoch angesetzt sein. Von fast 2000 Euro pro Jahr durch höhere Mieten und steigende
Verkehrskosten berichten die Gutachter. Laut Umweltministerium handelt es sich bei den
Berechnungen jedoch um Extremfälle, "die offensichtlich bewusst ausgewählt worden sind,
um Klimaschutz und Umstrukturierung der Energieversorgung zu diskreditieren".
Zudem hätten die Gutachter "trotz anderslautendem Auftrag ausschließlich eine
Kostenanalyse durchgeführt: Sie ignorieren damit den Nutzen einer ambitionierten
Klimapolitik und der Entwicklung von zukunftsorientierten Energieversorgungsstrukturen", so
die herbe Kritik aus dem Haus von Ressortchef Norbert Röttgen (CDU), Brüderles
Gegenspieler im laufenden Atomkonflikt.
Und selbst an der Wirtschaftlichkeit längerer Atomlaufzeiten - zentrales Ergebnis der
monatelang berechneten Szenarien - meldet die Expertise Zweifel an. Denn bei einer
Laufzeitverlängerung müssten vor allem ältere Meiler mit neuen Sicherheitsvorkehrungen
ausgerüstet werden, die teurer würden als gedacht. "Die von den Gutachtern definierten und
nicht nachvollziehbaren Nachrüstkosten sind aus Sicht des für die kerntechnische Sicherheit
zuständigen Bundesumweltministeriums deutlich zu niedrig angesetzt." Der Betrieb alter
Meiler könnte sich angesichts strenger Auflagen nicht mehr lohnen.
Röttgen verlangt dem Vernehmen nach bei vier Jahren Laufzeitverlängerung für die 17
Atomkraftwerke zusammen Investitionen in die Sicherheit von 6,2 Milliarden Euro. Bei
zusätzlich zwölf Jahren ergibt sich eine Summe von 20,3 Milliarden Euro, bei 20 Jahren
werden 36,2 Milliarden und bei 28 Jahren sogar 49,8 Milliarden Euro für Nachrüstungen
fällig.
Die größten Summen werden demnach für das Atomkraftwerk Neckarwestheim 2 benötigt.
Die Beträge liegen hier zwischen 1,2 Milliarden und 3,6 Milliarden Euro. Zudem trifft das
Gutachter-Modell aus Sicht des Umweltministeriums fragwürdige Annahmen zur
Strompreisbildung. Daher schnitten Szenarien mit langen Laufzeiten im Gutachten besser
ab. Das Ministerium bestätigte am Donnerstag die Existenz des Papiers.
Auch Umweltverbände und Wissenschaftler halten die von der Regierung vorgelegten
Energieszenarien für unrealistisch. Bei der von Merkel genannten möglichen
Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke um zehn bis 15 Jahre handle es sich um eine
"politische Festlegung", die aus dem Fachgutachten zur Energieversorgung "nicht ablesbar"
sei, heißt es beim WWF Deutschland. Auch ließen sich aus der Expertise keine positiven
Effekte längerer Laufzeiten auf das Bruttoinlandsprodukt, den Arbeitsmarkt oder den
Klimaschutz ableiten.
Welche Laufzeiten die Regierung am Ende festlegen wird, ist auch nach einem weiteren
Treffen Merkels mit Röttgen, Brüderle und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) am
Donnerstag offen. Für Sonntag hat Merkel die Koalitionsspitzen zu einem Gipfel ins
Kanzleramt geladen.
Nach SZ-Informationen zeichnet sich ab, dass der von Union und FDP geplante
Zwangsbeitrag der Atomindustrie zur Sanierung des Bundeshaushalts zumindest vorerst
nicht in einem Vertrag zwischen der Branche und der Regierung festgeschrieben, sondern
über die Einführung einer neuen Kernbrennstoffsteuer geregelt wird. Demnach müssen die
betroffenen Konzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall in Zukunft je eingesetztem Gramm
Uran oder Plutonium 220 Euro an das Finanzamt zahlen.
Insgesamt sollen so pro Jahr 3,1 Milliarden Euro zusammenkommen. Da die Konzerne die
Summe als Betriebsausgabe von der Körperschaftsteuer absetzen können, bleiben dem
Staat am Ende jene 2,3 Milliarden Euro, die im Sparpaket vorgesehen waren. Allerdings soll
die Kernbrennstoffsteuer befristet werden.
http://sueddeutsche.de/politik/energiepolitik-umweltministerium-ruegt-merkels-atom-
gutachten-1.995504
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